Als Gedächtnisinstitutionen sammeln und verkörpern Bibliotheken Geschichte und Geschichten. Dies gilt auch für die Herzog August Bibliothek, die im Jahr 2022 ihr 450-jähriges Jubiläum feierte.
Ihr Bestand wuchs über die Jahrhunderte. In ihre Sammlungen werden bis heute zeitgenössische und historische Bücher aufgenommen. Betrachtet man die Bände als geschichtliche Objekte, erzählen sie aus ihrer eigenen Biographie. Es sind Geschichten von Wissensdurst und Forschungsgeist, aber auch von Verlust und Raub.
Zwei Jahre in der Fremdenlegion. Erinnerungen (ca. 1912) von Erwin RosenHerzog August Bibliothek
Wann ein Buch in die Bibliothek kam, lässt sich anhand verschiedener Indizien und Informationsquellen ermitteln.
Dieses 1939 aus einer Schulbibliothek eingezogene Buch über die französische Fremdenlegion trägt einen Bibliotheksstempel, wie er in Wolfenbüttel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet wurde.
Pharmacopaeae Spagyricae, Oder Gründlicher Beschreibung / Wie man aus den Vegetabilien, Animalien und Mineralien, auff eine besondere und leichtere Weise/ gute/ kräfftige und durchdringende Artzneyen zurichten und bereiten soll ... (1656‒1668) von Johann Rudolph GlauberHerzog August Bibliothek
Dieser historische Druck aus dem 17. Jahrhundert ist eine antiquarische Neuerwerbung aus dem Jahr 2000. Über der handschriftlich vermerkten Signatur ist der moderne Besitzstempel der Bibliothek zu sehen.
Bücher erzählen Geschichten
Neben dem Stempel der Bibliothek sind in vielen Bänden Hinweise auf frühere Besitzer:innen enthalten. Stationen aus der Vergangenheit eines Buches lassen sich oftmals anhand solcher Provenienzmerkmale rekonstruieren.
Gerhart Hauptmann: Die blaue Blume (1927) von Gerhart HauptmannHerzog August Bibliothek
Der 1927 in einer Auflage von 150 Exemplaren gedruckte Gedichtband enthält eine eigenhändige Widmung des Schriftstellers Gerhart Hauptmann, mit dem Erhart Kästner, der spätere Direktor der Herzog August Bibliothek, persönlich bekannt war.
The Testament of Beauty. A Poem in Four Books. (1938) von Robert Seymour BridgesHerzog August Bibliothek
Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hatte möglicherweise der anonyme Schenker dieses englischsprachigen Werkes vor Augen. Der auf das Osterfest des Jahres 1945 datierte Eintrag lautet: »From hell.« Der Krieg sollte zu diesem Zeitpunkt noch über einen Monat andauern.
Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten u. Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers (vor 1945) von Martin LutherHerzog August Bibliothek
Fast gleichzeitig notierte die Käuferin einer Bibelausgabe den Grund für die Neuanschaffung:
»Da durch die Zerstörung unseres Braunschweiger Eltern- und Familienhauses ... auch unsere Familienbibel in der Schreckensnacht am 15. Oktober 1944 verbrannte, erwarb ich diese Bibel zu meiner lieben Mutter 73. Geburtstag am 29. März 1945.«
La Fontaine (1913) von Émile FaguetHerzog August Bibliothek
Manchmal endet der Blick in die Vergangenheit allerdings an einer nicht mehr zu schließenden Leerstelle.
So im Fall dieser Widmung durch den Autor des Bandes, deren Adressat ausgeschnitten wurde.
Ein wichtiges Anliegen bei der Erforschung der Geschichte der Bibliothek und ihrer Bestände ist die Suche nach NS-Raubgut. Im Rahmen der »Washingtoner Prinzipien« aus dem Jahr 1998 sowie der »Gemeinsamen Erklärung« von 1999 haben sich die Träger von Kulturerbe-Einrichtungen zu ihrer Verantwortung bekannt.
Aufgabe von Museen, Archiven und Bibliotheken ist es seitdem, ihre Sammlungen nach Objekten zu durchsuchen, die unter der nationalsozialistischen Diktatur beschlagnahmt wurden oder von ihren Eigentümer:innen verkauft werden mussten, um etwa die Flucht ins Ausland zu finanzieren.
Geschichte der Revolution vom niederländischen Aufstand bis zum Vorabend der französischen Revolution (1911) von Alexander ConradyHerzog August Bibliothek
Zahlreiche derartige Stücke befinden sich bis heute in Sammlungsinstitutionen auf der ganzen Welt. Sie sind – fast acht Jahrzehnte nach der Befreiung vom Nationalsozialismus – greifbare Zeugnisse des unter seiner Herrschaft begangenen Kulturgutraubs.
Historische Detektivarbeit
Bei der Suche nach NS-Raubgut sind alle Merkmale in einem Buch relevant, die sein Schicksal vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus dokumentieren.
Ultimo. Eine Komödie des Alltags (ca. 1934) von Jochen HuthHerzog August Bibliothek
Ein zeitgenössischer Stempel, der den Reichsadler mit einem Hakenkreuz im Eichenkranz zeigt, verweist auf die Einarbeitung des Werkes in den Bestand einer öffentlichen Institution in den Jahren der NS-Diktatur.
Das Buch selbst kann, muss aber ‒ wie hier ‒ nicht NS-Raubgut sein.
Pseudo-Aristoteles über die Seele (1891) von Abraham LöwenthalHerzog August Bibliothek
Der Besitzstempel in einer 1891 erschienenen wissenschaftlichen Publikation verweist auf das Rabbiner-Seminar zu Berlin. Die Ausbildungsstätte für orthodoxe Rabbiner wurde im Zuge der Novemberpogrome 1938 durch die nationalsozialistischen Machthaber geschlossen.
Was mit der Bibliothek des Seminars nach dessen Auflösung geschah, ist bislang nicht in allen Einzelheiten erforscht. Bücher aus ihrem Bestand wurden jedoch in zahlreichen deutschen Bibliotheken identifiziert und gelten als NS-Raubgut.
Friedrich der Große (1927) von Veit ValentinHerzog August Bibliothek
Der jüdische Arzt Dr. Joseph Löwenstein aus Hannover, der seinen Nachnamen in eine Biografie Friedrichs des Großen schrieb, floh 1939 vor der NS-Verfolgung nach Großbritannien.
Große Teile seiner Bibliothek musste er zuvor verkaufen. Weitere Bände wurden durch die NS-Behörden beschlagnahmt und versteigert. Das Buch aus seinem Besitz ist nachweislich NS-Raubgut.
NS-Raubgut-Forschung in der Praxis
Am Anfang der Suche nach NS-Raubgut steht die Durchsicht der Bücher. Alle darin enthaltenen Merkmale, die Informationen über Vorbesitzer:innen oder über die Umstände eines Besitzwechsels liefern können, werden erfasst.
Newe Carmelitische Schatz-Cammer Das ist Kurtzer bericht von dem Reichtumb und geistlichen Schatz der Bruderschafft des wurdigen Scapuliers unser lieben Frawen ... (1628) von Cyprianus a Sancta MariaHerzog August Bibliothek
Nicht immer geben Besitzer:innen jedoch so detailliert Auskunft wie in diesem historischen Druck aus dem Jahr 1628.
Dürer. Des Meisters Gemälde, Kupferstiche und Holzschnitte (1904) von Valentin SchererHerzog August Bibliothek
Oft können sich die Nachforschungen nur auf einen Namen stützen. Der hier gezeigte Kunstdruckband aus dem Jahr 1904 gehörte ausweislich des Stempels auf dem Titelblatt einer gewissen Eugenie Hammerschlag.
Aber wer war Eugenie Hammerschlag? ‒ Zur Identifizierung bislang unbekannter Personen des 20. Jahrhunderts werden bei der Recherche zahlreiche gedruckte Publikationen und Online-Ressourcen ausgewertet. Manche Nachschlagewerke sind auf Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung spezialisiert, während andere allgemeinere Informationen bieten oder historische Quellen, wie beispielsweise Zeitungen, erschließen.
Mapping the Lives. Ein zentraler Erinnerungsort für die Verfolgten in Europa 1933‒1945 (Screenshot) (2022)Herzog August Bibliothek
Der Name Eugenie Hammerschlags tauchte während der Recherche unter anderem in der durch einen gemeinnützigen Verein getragenen Datenbank »Mapping the Lives« auf, die Archivquellen aus der und über die Zeit des Nationalsozialismus zusammenfasst und visuell aufbereitet.
Mapping the Lives
(c) Tracing the Past e. V.
Proveana. Datenbank Provenienzforschung (Screenshot) (2022)Herzog August Bibliothek
Keine Ergebnisse erbrachte dagegen zum Zeitpunkt der Recherche die Suche in der Forschungsdatenbank »Proveana«, die spezifische Informationen über bereits bekannte Fälle des NS-verfolgungsbedingten Entzugs von Kunstgegenständen oder Büchern enthält.
Proveana. Datenbank Provenienzforschung
(c) Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Mithilfe der bereits von anderen Forscher:innen verfügbar gemachten Informationen sowie durch eigene Archiv- und Literaturrecherchen konnte eine Kurzbiographie Eugenie Hammerschlags ermittelt werden.
Eugenie Hammerschlag wurde 1879 in Berlin als Tochter des Unternehmers Hugo Adolph Deutsch und seiner Ehefrau Clara geboren. Um 1906 heiratete sie den Berliner Gynäkologen und Hochschullehrer Sigfrid Hammerschlag. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor.
Unter der nationalsozialistischen Diktatur wurde die Familie Hammerschlag Opfer der antisemitischen Entrechtung und Verfolgung. Eugenie Hammerschlag konnte 1939 nach Südamerika fliehen, wo sie 1941 verstarb.
Dürer. Des Meisters Gemälde, Kupferstiche und Holzschnitte (1904) von Valentin SchererHerzog August Bibliothek
Vor ihrer Emigration musste Eugenie Hammerschlag den gesamten in Berlin verbliebenen Besitz der Familie verkaufen. Der hier gezeigte Band wurde als Teil eines Sammelloses am 11. November 1938 im Berliner Auktionshaus von Max Perl versteigert.
Aufgabe der Herzog August Bibliothek ist es in diesem Fall, die Nachfahr:innen der verfolgten Vorbesitzerin zu ermitteln und zu kontaktieren. Eine faire und gerechte Lösung im Sinne der »Washingtoner Prinzipien« kann zum Beispiel eine Restitution des unter dem Druck der NS-Verfolgung veräußerten Bandes an die Familie des Opfers oder eine gemeinsame Aufarbeitung der Biographie des Buches und des Schicksals seiner Vorbesitzerin umfassen.
Lost Art-Datenbank (Screenshot) (2022)Herzog August Bibliothek
Bis die Erb:innen ermittelt sind, ermöglicht ein Eintrag in der
»Lost Art-Datenbank«, dass das Buch aus dem Eigentum von Eugenie Hammerschlag mit großen Suchmaschinen in mehreren Sprachen gesucht und gefunden werden kann.
Lost Art-Datenbank
(c) Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Online-Katalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Screenshot) (2022)Herzog August Bibliothek
Alle Informationen aus dem Buch werden auch im Online-Katalog der Herzog August Bibliothek vermerkt.
(c) OCLC PICA opc4 v2.13-vzg2 / Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Wie das Buch aus dem Besitz von Eugenie Hammerschlag wurden in den vergangenen zwei Jahren fast 30.000 Bände aus dem Bestand der Herzog August Bibliothek geprüft. Die große Mehrzahl enthielt keine Hinweise auf private oder institutionelle Vorbesitzer:innen, die durch das nationalsozialistische Regime verfolgt oder unterdrückt wurden.
Forschungsergebnisse
Zu insgesamt 376 Objekten aus den untersuchten Bestandssegmenten wurden intensive Tiefenrecherchen durchgeführt. In 35 Fällen konnte ein NS-verfolgungsbedingter Entzug nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht werden.
18 Bücher stammen aus dem ehemaligen Besitz von Privatpersonen, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund ihrer »Rasse«, Herkunft oder politischen Anschauungen verfolgt wurden.
Entstehung und Entwickelung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den zwei ersten Jahrhunderten (1910) von Adolf von HarnackHerzog August Bibliothek
Zu diesen Büchern gehören zwei Werke aus dem Besitz des Rabbiners
Dr. Hermann Vogelstein. Bei seiner Emigration in die Vereinigten Staaten im Jahr 1939 musste er seine Privatbibliothek zurücklassen. Ein späterer Besitzer strich den Stempel Vogelsteins aus.
Weitere 14 Bücher konnten im Rahmen der Forschungen Organisationen zugeordnet werden, die unter dem NS-Regime verboten, aufgelöst und beraubt wurden. Dazu gehören neben jüdischen Institutionen und Freimaurerlogen auch Einrichtungen der Arbeiterbewegung
Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik (1924) von Max AdlerHerzog August Bibliothek
In drei Bänden konnten Besitzstempel von Täterorganisationen des nationalsozialistischen Kulturgutraubes identifiziert werden.
Ein historischer Druck des 17. Jahrhunderts aus dem Bestand der Herzog August Bibliothek, der im Rahmen der Recherchen als NS-Raubgut identifiziert wurde, konnte im Herbst 2022 an seine rechtmäßige Eigentümerinstitution restituiert werden.
Provenienzforschung und Restitution
Es handelt sich um ein mehrteiliges Werk aus dem Vorbesitz der 1740 in Berlin gegründeten Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln«. Sie gehörte als eine der ältesten zu den acht anerkannten Freimaurer-Großlogen, die bis 1935 im Deutschen Reich existierten.
Pharmacopaeae Spagyricae, Oder Gründlicher Beschreibung / Wie man aus den Vegetabilien, Animalien und Mineralien, auff eine besondere und leichtere Weise/ gute/ kräfftige und durchdringende Artzneyen zurichten und bereiten soll ... (1656‒1668) von Johann Rudolph GlauberHerzog August Bibliothek
In die Bibliothek der Großloge kam der Band aus der Freimaurersammlung des Berliner Aufklärers Friedrich Nicolai.
Sein Daniel Chodowiecki zugeschriebenes Exlibris ist ebenfalls im Buch enthalten. Die so dokumentierte Besitzkette macht den Band historisch besonders interessant.
Pharmacopaeae Spagyricae, Oder Gründlicher Beschreibung / Wie man aus den Vegetabilien, Animalien und Mineralien, auff eine besondere und leichtere Weise/ gute/ kräfftige und durchdringende Artzneyen zurichten und bereiten soll ... (1656‒1668) von Johann Rudolph GlauberHerzog August Bibliothek
Die umfangreichen Bibliotheksbestände der Großen National-Mutterloge »Zu den drei Weltkugeln« wurden 1935 bei der Beschlagnahme des Berliner Logenhauses durch die Gestapo abtransportiert.
Es ist bislang nicht bekannt, wie das Wolfenbütteler Exemplar auf den Antiquariatsmarkt gelangte, wo es im Jahr 2000 von der Herzog August Bibliothek erworben wurde.
Weitere Rückgaben von NS-verfolgungsbedingt entzogenen Büchern aus dem Bestand der Herzog August Bibliothek sollen in nächster Zeit folgen.
Die Suche nach NS-Raubgut in den Sammlungen der Bibliothek ist damit nicht abgeschlossen. Andere Bestandssegmente und historische Zusammenhänge sollen in den kommenden Jahren erforscht werden. Neue Beobachtungen und Erkenntnisse ermöglichen immer neue Bewertungen von Besitzverhältnissen und machen die NS-Provenienzforschung zu einem »work in progress«.
Online-Katalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Screenshot) (2022)Herzog August Bibliothek
Alle bislang bekannten NS-Raubgut-Fälle sind im Bibliothekskatalog gekennzeichnet.
Wenn Sie bei der Benutzung von Beständen der Herzog August Bibliothek auf verdächtige oder erklärungsbedürftige Provenienzmerkmale stoßen, zögern Sie nicht, das Team der NS-Provenienzforschung zu kontaktieren!
(c) OCLC PICA opc4 v2.13-vzg2 / Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Logo (2022)Herzog August Bibliothek
Gefördert durch:
(c) Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste
Diese virtuelle Ausstellung und die ihr zugrunde liegenden Forschungen wurden im Rahmen des durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste geförderten Projekts »NS-Raubgut unter den antiquarischen Erwerbungen der Herzog August Bibliothek seit 1969« erarbeitet.
Kuratorin: Christine Rüth / Mitwirkung: Izabela Mihajlović, Antonia Reck