By Bavarian State Library
Bayerische Staatsbibliothek
„Alle seine Musik war Verkündigung“ (Heinrich Kaminski, 1886-1946)
Der 1886 in Tiengen im Schwarzwald geborene Heinrich Kaminski war zu Lebzeiten ein außerordentlich erfolgreicher Komponist, der nach dem zweiten Weltkrieg zunächst nahezu vollständig in Vergessenheit geriet.
Nach ersten Studien bei Philipp Wolfrum in Heidelberg ging Kaminski 1909 nach Berlin an das Sternsche Konservatorium und an die Königliche Akademie der Künste, wo er Komposition und Klavier studierte. Von 1914 bis zu seinem Tod lebte er als freischaffender Komponist fast ausschließlich in dem kleinen Dorf Ried in Oberbayern und konnte sich, von Freunden und Mäzenen gefördert, auf seine Werke und einen kleinen Kreis von Schülern konzentrieren. Sein wichtigster Unterstützer war über viele Jahre hinweg der Schweizer Industrielle Werner Reinhart.
Heinrich Kaminski in RiedBavarian State Library
1916 heiratete Kaminski Friederike („Elfriede“) Jopp und wurde innerhalb weniger Jahre Vater von fünf Kindern: Gabriele, Benita, Renate, Donatus und Vitalis. In Ried bewohnte Kaminski mit seiner Familie seit 1921 das Haus von Maria Marc, das ihm die Witwe des
im ersten Weltkrieg gefallenen Franz Marc überließ.
Als Durchbruch des Komponisten gilt die Aufführung seines „69. Psalms“ beim 51. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins 1921. Die Wiener Universal-Edition schloss mit ihm daraufhin einen Exklusivvertrag über einen Zeitraum von 10 Jahren ab.
1930 bis 1933 war Kaminski Leiter einer Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste, zudem 1930 bis 1934 Leiter der Musikvereins-Konzerte in Bielefeld.
Heinrich Kaminski in der Komponierhütte in RiedBavarian State Library
In den folgenden Jahren ereilte Kaminski eine Reihe schwerer beruflicher und persönlicher Schicksalsschläge. Seine vorgeblich „nichtarische Abstammung“ (diese Behauptung wurde vom NS-Regime 1941 offiziell zurückgezogen) verhinderte 1938 eine Berufung an die Berliner Hochschule für Musik. Aus dem gleichen Grund wurde ein Aufführungsverbot über seine Werke verhängt. Kaminskis Töchter Gabriele und Benita starben 1939 und 1945, sein Sohn Donatus fiel 1943 im zweiten Weltkrieg. Kaminski erkrankte schwer und verstarb kurz nach der Vollendung seiner zweiten Oper „Das Spiel vom König Aphelius“ am 21. Juni 1946.
Bereits zu Lebzeiten Heinrich Kaminskis und in den ersten Jahren nach seinem Tod hatte die Bayerische Staatsbibliothek einzelne Autographen seiner Werke von ihm bzw. seiner Witwe Elfriede Kaminski erworben, hinzu kamen Ankäufe auf dem Antiquariatsmarkt. In den Jahren 1982 bis 1985 wurde der Bestand durch mehrere Ankäufe von den Nachfahren Kaminskis ganz erheblich vergrößert. 2014 übergab schließlich die Heinrich Kaminski Gesellschaft e. V. der Bayerischen Staatsbibliothek eine wertvolle, sehr umfangreiche Kaminski-Sammlung als Schenkung. Darunter befindet sich auch ein großer Bestand an Briefen und Dokumenten. Damit ist heute eine Fülle von Kaminski-Quellen verschiedenster Provenienz in der Bayerischen Staatsbibliothek vereint.
Die Musikhandschriften wurden vollständig erschlossen; sämtliche Autographen liegen digitalisiert und online zugänglich vor.
Heinrich Kaminski in Heidelberg
Von 1906 bis 1909 lebte Kaminski in Heidelberg und widmete sich hauptsächlich, unter Vernachlässigung seines Studiums der Staatswissenschaft, dem Klavierspiel. Der Universitätsmusikdirektor Philipp Wolfrum erteilte ihm Unterricht in Musiktheorie und riet ihm, in Berlin ein Musikstudium aufzunehmen.
Fotografie. Ca. 1908
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Hugo Kaun (1863-1932)
Fotografie (Postkarte). 1910
Hugo Kaun war Kaminskis erster Lehrer für Komposition in Berlin, später wechselte er zu Paul Juon (1872-1940).
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Die Klavierklasse von Severin Eisenberger (1879-1945)
Fotografie. 1910
Im Herbst 1909 nahm Kaminski ein Musikstudium am Sternschen Konservatorium in Berlin auf. Er fand Aufnahme in die Klavierklasse von Severin Eisenberger.Kaminski in der zweiten Reihe von oben, links hinter dem Flügel, Severin Eisenberger vor dem Flügel sitzend.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Invention für Klavier As-Dur
Autograph. 21. September 1910
Eine der frühesten erhaltenen Kompositionen Kaminskis, aus dem Besitz seiner Mitschülerin Clara Holler, der der Komponist mehrere Handschriften überlassen hatte. Clara Hollers Aufzeichnungen sind die wichtigste Quelle für Kaminskis Studienjahre in Berlin. Die „Invention“ wurde 1949 in das Kaminski-„Klavierbüchlein“ des Bärenreiter-Verlags aufgenommen.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 139,25
Rudolf Steiner (1861-1925)
Fotografie von Otto Rietmann. 1916
Kaminski war während seines Berliner Musikstudiums einer anthroposophischen Loge beigetreten und besuchte die Vorträge von Rudolf Steiner. Er verdankte Steiner wesentliche Denkanstöße, die seine Weltanschauung für lange Zeit prägten.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Jahreskalender
Von Kaminski gezeichneter Jahreskalender, der offensichtlich anthroposophischen Vorstellungen verpflichtet ist.
Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 618
"Heinrich Kaminski in Ried
Fotografie. November 1917
Nach dem Ende seines Berliner Musikstudiums siedelte Kaminski 1914 nach kurzem Aufenthalt in München in das kleine Dorf Ried bei Benediktbeuern über. Seine erste Klavierschülerin in Ried war Maria Marc, die dort kurz zuvor gemeinsam mit ihrem Mann Franz Marc ein neues Haus bezogen hatte.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V."
Franz Marc (1880-1916)
Fotografie von Heinrich Hoffmann. 1912
Kaminski und Franz Marc lernten einander nur während Marcs kurzer Urlaubsaufenthalte von der Front 1915 und 1916 kennen. Franz Marc fiel 1916 vor Verdun.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Maria Marc (1876-1955)
Fotografie von Felicitas Timpe. 1954
Maria Marc wurde nach dem frühen Tod ihres Mannes zu einer engen Freundin und Gönnerin der rasch wachsenden Familie Kaminski.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Heinrich Kaminski mit seiner Tochter Benita vor dem Marc-Haus
Fotografie. 1922
Nach Kaminskis Heirat mit Friederike („Elfriede“) Jopp 1916 wurden in schneller Folge in den Jahren 1918 bis 1923 die Kinder Gabriele, Benita, Renate, Donatus und Vitalis geboren. 1921 bezog die Familie das Haus von Maria Marc, die für sich nur noch wenige Räume beanspruchte.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Die Komponierhütte
Fotografie von Heinrich Kaminski. Ca. 1925
Im Garten des Marc-Hauses in Ried stand Kaminski dieses Nebengebäude als Arbeitsstätte zur Verfügung.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Das Innere der Komponierhütte
Fotografie von Heinrich Kaminski. Ca. 1929
An den Wänden Bilder von Emil Nolde und Franz Marc.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Carl Orff (1895-1982) Fotografie von Felicitas Timpe. 1953
Carl Orff gehörte zu dem kleinen Kreis von Schülern, die Kaminski in Ried um sich scharte. Orff berichtet in seinen Erinnerungen: „Frühsommer 1920 erlebte ich in München die Uraufführung des 69. Psalms von Heinrich Kaminski. Das Werk, wie auch seine kurz darauf im Künstlertheater aufgeführte Passionsmusik, machte einen starken Eindruck auf mich. Daraufhin entschloss ich mich, bei Kaminski nochmals in die Lehre zu gehen...“
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Bruno Walter (1876-1962)
Fotografie (Postkarte) von Carl Pietzner. 1919
Bruno Walter war von 1913 bis 1922 Generalmusikdirektor der Münchner Oper. 1915 hatte ihm Kaminski die Partitur seines „69. Psalms“ vorgelegt, und Walter versprach ihm die Aufführung zu einem günstigeren Zeitpunkt. Im Mai 1920 brachte Walter das Werk mit dem Chor des Lehrergesangvereins München zur Uraufführung.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Der 69. Psalm Partitur. Autograph. 1914
Nach der Uraufführung des 1914 vollendeten „69. Psalm“ in München durch Bruno Walter 1920 erlebte das Werk im Folgejahr eine Aufführung beim 51. Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Nürnberg, die als Durchbruch Kaminskis gelten kann. Die Wiener Universal-Edition bot ihm daraufhin einen Exklusivvertrag über 10 Jahre an. Die imposante Partitur für achtstimmigen gemischten Chor, Knabenchor, Solo-Tenor und Orchester war der erste Ankauf eines Autographs von Heinrich Kaminski durch die Bayerische Staatsbibliothek im Jahr 1935.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 5334
Kaminski in Donaueschingen Fotografie. 26. Juli 1925
Die „Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst“ wurden 1921 gegründet und sind damit das älteste Festival für Neue Musik weltweit. Joseph Haas gehörte neben Paul Hindemith und Heinrich Burkard zu den Gründervätern. 1925 wurde hier Kaminskis Quintett für Klarinette, Horn, Violine, Bratsche und Violoncello uraufgeführt. Gruppe links: Maximilian Egon zu Fürstenberg, Heinrich Kaminski, Werner Reinhart, unbekannt, Elfriede Kaminski
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Wandern an der Benediktenwand Fotografie von Heinrich Kaminski (Selbstauslöser). 1928
Die abgebildeteten Personen gehören zu Kaminskis zeitweiligen Hausgenossen in Ried. Die Pianistin Dusza von Hakrid heiratete später Kaminskis Schüler Reinhard Schwarz-Schilling, Walter Abegg entschloss sich nach dreimonatigem Aufenthalt und Unterricht in Ried gegen eine Musikerlaufbahn. Von links: Heinrich Kaminski, Dusza von Hakrid, Walter Abegg, Reinhard Schwarz-Schilling.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Die Kinder Kaminskis mit dem Verleger Emil Hertzka (1869-1932)
Fotografie. Sommer 1928
Emil Hertzka war von 1907 bis 1932 Direktor des Wiener Musikverlags Universal Edition, mit dem Kaminski einen zehnjährigen Exklusivvertrag hatte.
Von links: Donatus, Gabriele, Renate, Emil Hertzka, Benita und Vitalis.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Familie, Hauspersonal und Schüler von Heinrich Kaminski Fotografie von Heinrich Kaminski. Juli 1933
Im Familienkreis sind hier auch zwei Schüler Kaminskis zu sehen. Hans Hartog wurde Kaminskis wichtigster Biograph. Horst Günther Schnell, später der erste Ehemann von Luise Rinser, fiel 1943 in Russland. Von links: Horst Günther Schnell mit Donatus auf dem Rücken, Hans Hartog mit Renate auf dem Rücken, Hausdame Irma Oelkers, Elfriede Kaminski, Benita, Hauslehrer Martin Simon mit Vitalis auf dem Rücken.
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Werner Reinhart (1884-1952) Fotografie
Der Winterthurer Industrielle und Mäzen nahm 1922 Verbindung zu Kaminski auf und wurde bald sein wichtigster Förderer. Reinhart förderte auch zahlreiche andere Künstler, vor allem Musiker und Komponisten, darunter Richard Strauss, Igor Strawinsky, Othmar Schoeck, Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg, Paul Hindemith, Ernst Krěnek und Rainer Maria Rilke. Viele Uraufführungen der Werke Kaminskis fanden in Winterthur statt, und Kaminski widmete und schenkte Reinhart zahlreiche Autographen seiner Werke.
Winterthurer Bibliotheken, Depot des Musikkollegiums
Präludium und Fuge für die Bratsche allein Autograph. 1934Druck. Leipzig : Peters, 1936
Heinrich Kaminski hat die Bratsche besonders geliebt. Die Anregung für dieses Solowerk kam möglicherweise durch das Bratschenspiel von Paul Hindemith. Eine zunächst mit Hindemith geplante Uraufführung kam aber nicht zustande. Oskar Kromer spielte das Werk dann erstmals am 26. September 1934 in Winterthur. Der frühen Bleistiftniederschrift des Präludiums auf einem kleinformatigen Blatt aus dem Nachlass wird hier der 1936 bei Peters erschienene Druck zur Seite gestellt. Kaminski hat in der endgültigen Fassung die Notenwerte im Vergleich zum Autograph verdoppelt.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 17045 und 2 Mus.pr. 9984
Musik für 2 Violinen und Cembalo Partitur. Autograph. 1932
In dieser filigranen Partiturreinschrift hat Kaminski sein Werk noch „kleines Concert“ überschrieben, der Titel im Druck lautet dann „Musik für 2 Violinen und Cembalo“. Kaminski hatte 1932 eigentlich nur einige kleine Klavierstücke hausmusikalischen Charakters schreiben wollen, wie er in einem Brief an Werner Reinhart mitteilte: „in das Orchesterwerk [wohl die „Dorische Musik“] hinein ist mir eine andere (kammermusikalische) Arbeit in die Quere gekommen und hält mich länger auf, als ich anfangs vermutete…“. Das Werk wurde am 9. November 1932 in Winterthur uraufgeführt, Aufführungen in Berlin und beim Deutschen Tonkünstlerfest in Hamburg folgten 1935.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 17042
In memoriam Gabrielae
Partitur. Autograph. 1939-1940
Am 14. September 1939 verstarb völlig unerwartet Kaminskis älteste Tochter Gabriele nach einer eigentlich harmlosen Operation. Kaminski versuchte, das Ereignis mit einer Trauermusik zu verarbeiten. Das Werk für Alt-Solo, Violine und Orchester wurde 1940 in Rostock uraufgeführt.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 17015
Heinrich Kaminski in der Komponierhütte in Ried
Fotografie
Heinrich Kaminski Gesellschaft e.V.
Das Spiel vom König Aphelius
Reinschrift der Partitur. Autograph. 1946
Die Oper ist Kaminskis letztes Werk, das er am 22. Mai 1946, nur einen Monat vor seinem Tod, vollendete. Die Uraufführung fand 1950 in Göttingen unter Leitung von Fritz Lehmann statt. Aufgeschlagen: Auftritt des „Ansagers“ vor dem Vorspiel.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 17060
Das Spiel vom König Aphelius Libretto
Kaminski hat das Libretto seiner letzten Oper selbst verfasst: Der seine Herrschaft mit Gewalt ausübende König Aphelius wird Zeuge von fünf Szenen aus der Geschichte der Menschheit, in denen stets der Fortschritt auf dem Weg zur Menschwerdung durch Gewalt erstickt wurde, und wird dadurch geläutert. Eine geplante Überarbeitung des Textes mit Unterstützung von Erich Kästner kam durch Kaminskis Tod nicht mehr zustande. Das Libretto erschien deshalb 1949 in der Form, in der es Kaminski hinterlassen hatte.
Bayerische Staatsbibliothek München, D.D.I 5923 b
Maria durch ein Dornwald ging Partitur. Autograph. April 1928
Der noch heute vielgesungene, schlichte sechsstimmige Satz gehört zu den Volksliedbearbeitungen Kaminskis, die im „Volksliederbuch für die Jugend“ des Leipziger Verlags Peters erschienen. Kaminskis Witwe Elfriede schenkte das Autograph dem Münchner Bibliothekar Hans Halm, wie die kaum noch lesbare Widmung unten rechts belegt: „Dem Behüter und Bewahrer geistiger Werte: Dr. H. Halm zu Weihnachten 1948. Elfriede Kaminski“.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 8783
Hans Halm (1898-1965)
Fotografie
Der Bibliothekar und Musikforscher Hans Halm leitete die Musikabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek von 1938 bis 1955. Seine Kontakte mit der Familie von Heinrich Kaminski sind auch in der Korrespondenz der Abteilung dokumentiert.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
„Die
Unruhe sitzt mir im Blut“ (Hugo
Distler, 1908-1942)
Hugo Distler gehört zu den wichtigsten deutschen Komponisten geistlicher und weltlicher Vokalmusik seiner Zeit.
Geboren 1908 in Nürnberg als uneheliches Kind, wuchs Distler bei seinen Großeltern auf, die ihm trotz zeitweise schwierigster Lebensverhältnisse grundlegenden Musikunterricht ermöglichten.
Das 1927 aufgenommene Musikstudium an Landeskonservatorium Leipzig bei Hermann Grabner (Komposition), Carl Adolf Martienssen (Klavier) und Günter Ramin (Orgel) konnte Distler aus wirtschaftlicher Not nicht abschließen. 1931 trat er eine Stelle als Organist der Kirche St. Jakobi in Lübeck an. Hier kam Distler mit dem Berneuchener Kreis, der eine Reform der evangelischen Kirche anstrebte, und mit der Singbewegung in Kontakt. In den Lübecker Jahren entstand mehr als die Hälfte aller seiner Kompositionen, vor allem geistliche Vokal- und Orgelmusik. Außerdem trat Distler erfolgreich als Cembalist in Erscheinung, u. a. mit seinem Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14. Im Oktober 1932 unterzeichnete Distler einen Vertrag mit dem Bärenreiter-Verlag in Kassel, der eine umfassende Drucklegung und Verbreitung seiner Werke förderte.
Hugo DistlerBavarian State Library
Der 1933 geschlossenen Ehe Hugo Distlers mit der Lübeckerin Waltraut Thienhaus entstammen drei Kinder: Barbara, Andreas und Brigitte.
1937 trat Distler eine Stelle an der Württembergischen Musikhochschule Stuttgart an.
In Stuttgart entstanden überwiegend weltliche Werke, darunter das bekannte „Mörike-Chorliederbuch“. Im Mittelpunkt seiner Tätigkeit stand nun die Chorleitung. Der Höhepunkt von Distlers Karriere war die Berufung an die Hochschule für Musik in Berlin 1940. Zusätzlich übernahm er in Berlin die Leitung des Staats- und Domchores, eine der repräsentativsten Stellen des deutschen Musiklebens.
Barbara Distler-Harth: Hugo Distler. Lebensweg eines FrühvollendetenBavarian State Library
Distlers zunehmende Arbeitsüberlastung, Anfeindungen von Seiten der Hitlerjugend, Angst vor der Einberufung zum Militärdienst, doch auch seine stets zur Schwermut neigende Disposition ließen ihn in eine als ausweglos empfundene Lage geraten. Am 1. November 1942 setzte Hugo Distler seinem Leben selbst ein Ende.
Zahlreiche Musikhandschriften Hugo Distlers aus der Stuttgarter und Berliner Zeit gingen im zweiten Weltkrieg verloren. Die reiche Überlieferung der wichtigen Lübecker Schaffensjahre ist einem Zufall zu verdanken. Distler hatte diese Handschriften in Lübeck auf dem Dachboden seiner Schwiegereltern gelagert und sie beim Umzug nach Stuttgart vergessen. Nach verschiedenen Aufbewahrungsorten, zuletzt in der Lübecker Stadtbibliothek im „Hugo-Distler-Archiv“, wurde der wertvolle Bestand 2010 durch die Kinder Hugo Distlers der Bayerischen Staatsbibliothek übergeben. Die Musikhandschriften wurden vollständig erschlossen und digitalisiert, sie sind online zugänglich.
Zeugnis von Günter Ramin (1898-1956)
Typoskript mit Unterschrift. Leipzig, 2. November 1930
Günter Ramin, Distlers Orgellehrer am Leipziger Konservatorium, war als Thomasorganist der Nachfolger Karl Straubes.
Bayerische Staatsbibliothek München, Fasc.germ. 288.7
Zeugnis von Hermann Grabner (1886-1969)
Typoskript mit Unterschrift. Leipzig, 8. November 1930
Bayerische Staatsbibliothek München, Fasc.germ. 288.8
Zeugnis von Carl Adolf Martienssen (1881-1955)
Autograph. Leipzig, 27. November 1930
Carl Adolf Martienssen war Distlers Klavierlehrer am Leipziger Konservatorium. Distler widmete ihm die im Zeugnis erwähnte „Konzertante Sonate für zwei Klaviere op. 1“.
Bayerische Staatsbibliothek München, Fasc.germ. 288.9
Aufzeichnungen aus dem Kompositionsunterricht bei Hermann Grabner Autograph. 1927-1928
Bei diesem 149 Seiten umfassenden Manuskript, der frühesten erhaltenen Musikhandschrift Distlers, handelt es sich um die Übungsstücke, die er im Kontrapunkt- und Formenlehre-Unterricht bei Hermann Grabner am Leipziger Konservatorium aufzeichnete. Grabner erinnerte sich 1964 an seinen hochbegabten Schüler: „…jede Übung brachte ein von der Substanz erfülltes und mit faszinierender Leichtigkeit hingelegtes kleines Kunstwerk.“ Aufgeschlagen: Mitschrift der „1. Stunde: 21. 9. 27“ und ein zweistimmiges „Sanctus“, eine Hausaufgabe vom Herbst 1927.
Bayerische Staatsbibliothek, Mus.N. 119,63
Lübeck, Kirche St. Jakobi
Fotografie
Aus wirtschaftlicher Not zum Abbruch des Leipziger Studiums gezwungen, wurde Distler 1931 Organist der Lübecker Jakobikirche. Ein Glücksfall, denn die Stelle bot ihm reiche künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Hugo Distler
Reproduktion einer Fotografie. Ca. 1935
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Der Jahrkreis op. 5 Partitur. Autograph (Stichvorlage)
Die Sammlung von 52 kleinen geistlichen Chorwerken entstand in den Jahren 1931 und 1932. Distler hat in der vorliegenden Reinschrift und Stichvorlage den Notentext und den Text der ersten Motettenstrophe jeweils auf Notenpapier niedergeschrieben, dann ausgeschnitten und auf unliniertes größerformatiges Papier aufgeklebt, wobei für jede Motette ein neues Blatt verwendet wurde. Die Texte der Folgestrophen hat Distler teilweise direkt auf dem unlinierten Papier niedergeschrieben, teilweise aus gedruckten Ausgaben ausgeschnitten und aufgeklebt. Aufgeschlagen: Titelblatt, mit umfangreichen Korrekturen und Ergänzungen für die Drucklegung, und Nr. 1: O Heiland, reiß die Himmel auf.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,6
Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14, 1. Satz Partitur. Autograph (Stichvorlage)
Distlers Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14 gilt als sein bedeutendster Wurf auf dem Gebiet der großen Instrumentalform.Ende 1935 begann Distler mit der Komposition, bereits Ende März fand eine Probe mit dem Dirigenten Hans Hoffmann statt. Die Uraufführung des ursprünglich viersätzigen Konzerts – der dritte Satz wurde später gestrichen – fand am 29. April 1936 in der Hamburger Musikhalle statt. Solist war Distler, der auf seinem eigenen Cembalo spielte.Der Nachlass enthält, nach Sätzen getrennt, eine Fülle von Quellen zur Entstehung des Werks, von denen hier nur einige wenige gezeigt werden können.Vom 1. Satz liegt eine in Leinen gebundene Reinschrift vor, die als Stichvorlage für die Ausgabe des Bärenreiter-Verlags diente, wie die Korrekturen Distlers (mit Tinte) und Verlagseintragungen (mit Bleistift) belegen.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,62
Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14, 2. Satz Skizzen
Die Skizzen zum 2. Satz des Konzerts bieten einen faszinierenden Einblick in die Werkstatt des Komponisten. Den auf drei Seiten notierten Beginn des Satzes hat Distler offenbar verworfen und das Doppelblatt komplett durchgerissen. Auf S. 30 finden sich Notizen zum geplanten Satzverlauf, interessanterweise mit einem Hinweis auf Hindemiths Symphonie „Mathis der Maler“. Solche von Distler selbst als „Schemata“ bezeichneten Aufzeichnungen sind typisch für seine Arbeitsweise und in seinen Skizzen häufiger zu finden.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,64
Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14, letzter Satz: Variationen über „Ei du feiner Reiter“ Skizzen und Fragmente
In einem Konvolut von Partiturfragmenten und Skizzen zum Finale des Cembalokonzerts findet sich eine filigrane Niederschrift mit Bleistift des Satzbeginns nach Samuel Scheidts „Ei du feiner Reiter“ (Tabulatura nova, 1624). Hier kann man erkennen, dass Distler zunächst plante, bereits die Präsentation des Themas als Dialog zwischen Streichern und Cembalo zu gestalten. In der nachträglichen Bemerkung rechts oben auf der Seite dokumentiert Distler bereits seine Entscheidung, die Präsentation des Themas den Streichern zu überlassen und den Dialog zwischen Streichern und Cembalo mit der berühmten „Fragmentierung“ des Themas auf den Satzschluss zu verlegen: „Thema original! Erst bei der Wiederholung an vorletzter Stelle (As dur) in der vorliegenden Fassung“.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,65
Konzert für Cembalo und Streichorchester op. 14, letzter Satz: Variationen über „Ei du feiner Reiter“
Korrekturfahnen für die Bärenreiter-Ausgabe
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,66
Fest der deutschen Kirchenmusik Programmbuch. Berlin : Eckart-Verlag, 1937
Distlers inzwischen großes überregionales Ansehen wird durch die Aufführung mehrerer Werke beim „Fest der deutschen Kirchenmusik“ des Reichsverbands für evangelische Kirchenmusik im Oktober 1937 in Berlin dokumentiert. Unter anderem erklang, sehr kontrovers aufgenommen, das Cembalokonzert op. 14. Distler selbst fuhr nicht nach Berlin, wie er in einem Brief an Freunde bekannte: „Zur Zeit wickelt sich in Berlin ein riesiges Kirchenmusikfest mit nur neuer Musik ab; ich bin mit meiner Musik dabei stark vertreten, ich selber habe gar keine Lust hinzufahren. Dabei wird man zu oft fotografiert, ich hasse die Fotografen, auch wenn sie es gut meinen“.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.th. 1056
Mörike-Chorliederbuch op. 19 Mausfallensprüchlein. Partitur. Autograph. 1938/39
1937 wurde Distler als Hochschullehrer für Chorleitung, Formenlehre und Musiktheorie an die Württembergische Musikhochschule Stuttgart berufen, im Mai 1940 wurde er zum Professor ernannt. Sein Schaffen verlagerte sich in dieser Zeit zum weltlichen Bereich. Besonders populär wurde das 1938/39 entstandene Mörike-Chorliederbuch. Die gefeierte Uraufführung mit dem Stuttgarter Hochschulchor unter Leitung des Komponisten fand im Juni 1939 beim „Fest der deutschen Chormusik“ in Graz statt.Neben einigen Skizzen und Fragmenten zum Mörike-Chorliederbuch ist im Nachlass diese Reinschrift des „Mausfallensprüchleins“ für Frauenchor überliefert.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,79
Brief Hugo Distlers an Joseph Haas (1879-1960) Typoskript mit Unterschrift und eigenhändigen Zusätzen. Stuttgart-Vaihingen, 23. Mai 1939
Joseph Haas, einer der renommiertesten deutschen Komponisten seiner Zeit, hatte wie Distler in Leipzig studiert und seit 1911 am Stuttgarter Konservatorium unterrichtet, seit 1916 als Professor, bevor er 1924 an die Musikhochschule in München wechselte. Der hier gezeigte unbekannte Brief des gestandenen und erfolgreichen Komponisten Hugo Distler mit der Bitte, bei Joseph Haas Instrumentationsunterricht zu nehmen, stammt aus dem Nachlass von Joseph Haas. Aus dem weiteren Briefwechsel geht hervor, dass es zwar nicht zu einem regelrechten Unterricht kam, dass aber die Prüfung eines geplanten Oratoriums Distlers durch Joseph Haas vereinbart wurde. Bei diesem Oratorium handelt es sich sicherlich um „Die Weltalter“, dessen Komposition durch Distlers frühen Tod nicht mehr zustande kam.
Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 534
Berliner Dom Fotografie (Postkarte) um 1930
Im April 1942 übernahm Hugo Distler zusätzlich zur Hochschultätigkeit und zur Leitung der Hochschulchöre das Amt des Direktors des Berliner Staats- und Domchores, von dem er sich die Möglichkeit neuerlichen kirchenmusikalischen Wirkens versprach. Die zusätzliche Arbeitslast trug jedoch zu seiner zunehmenden Überforderung bei, die zu seelischer und körperlicher Erschöpfung und schließlich zum völligen Zusammenbruch führte.
Bayerische Staatsbibliothek München, Bildarchiv
Johannes-Passion Turbachöre „Jesum von Nazareth“. Partitur. Autograph. 2. April 1941
Distler hatte Ende 1940 in Berlin die Arbeit an einer in Stuttgart begonnenen „Johannes-Passion“ wieder aufgenommen, vollendete jedoch nur einige kurze Sätze, darunter die Turbachöre „Jesum von Nazareth“, über deren Entstehung er in einem Brief an Ingvar Sahlin berichtete: „Heute machte ich einen Chor aus meiner neuen Passion ‚Jesum von Nazareth‘, 4stimmig, alles innerhalb eines Akkords sich bewegend (dfab), interessant – das Volksgeschrei nachahmend – nur dadurch, daß jede der 4 Stimmen (aber einheitlich, im Allabreve notiert) einen andern Takt hat: der Sopran dreiviertel, der Alt vierviertel, der Tenor dreihalbe, der Baß vierhalbe [bei den Männerstimmen irrt Distler, es verhält sich umgekehrt!]; dabei sicher sehr leicht auszuführen.“
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 119,145
Die Weltalter
Libretto. Typoskript mit eigenhändigen Eintragungen von Hugo Distler. Strausberg bei Berlin. 9. Februar 1942
Der Plan zu einem abendfüllenden Oratorium auf einen eigenen Text hat Distler über mehrere Jahre hinweg, von 1939 bis 1942, intensiv beschäftigt. Nur das Textbuch liegt vollständig vor. Die hier gezeigte „4. Abschrift“ enthält durchgehend eigenhändige Korrekturen.
Bayerische Staatsbibliothek München, Fasc.germ. 288.3
Die Weltalter
Skizzen. Autograph. 1942
Eine der wenigen überlieferten musikalischen Skizzen zu „Die Weltalter“. Es handelt sich um Skizzen zum Eingangschor „Ikaros“ zur 3. Szene des zweiten Teils des Oratoriums.
Bayerische Staatsbibliothek München, Mus.N. 199,148
Barbara Distler-Harth: Hugo Distler. Lebensweg eines Frühvollendeten
Mainz : Schott, 2008
Die älteste Tochter von Hugo Distler, Barbara Distler-Harth, veröffentlichte 2008 eine maßgebliche Biographie ihres Vaters. 2010 schenkte sie gemeinsam mit ihren Geschwistern Brigitte und Andreas der Bayerischen Staatsbibliothek den musikalischen Nachlass von Hugo Distler.