By Friedrich-Ebert-Stiftung
Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung
Sozialdemokratie in Deutschland
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ist die älteste demokratische Partei in Deutschland. Sie entsteht als Bewegung, die gegen die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ungerechtigkeiten des 19. Jahrhunderts aufbegehrt. Mit dem Erfolg wird aus der Bewegung der Arbeiter_innen eine Organisation mit festen Strukturen – eine Programmpartei. Im 20. Jahrhundert wird aus der „Klassenpartei“ eine „Volkspartei“. Sie zieht diejenigen an, die die Fragen der Zeit auf der Grundlage der sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität beantworten möchten. Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Geschichte der Sozialdemokratie, die voller politischer Leidenschaft ist, und erzählt von Verbrüderung und Spaltung, Machtkampf und Charisma, Krisen und politischen Erfolgen.
I. Die Anfänge der Sozialdemokratie (1789 bis 1863)
Die historischen Wurzeln der Sozialdemokratie liegen in der Französischen Revolution: Bereits die frühe Arbeiterbewegung übernimmt die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Sozialdemokratie ist eine Antwort auf die politischen und sozialen Ungerechtigkeiten des 19. Jahrhunderts. Der gesellschaftliche Nährboden ist die sich entwickelnde Arbeiterklasse. Die internationale Ausrichtung ist von Anfang an entscheidend: Deutsche Handwerksgesellen lernen in Frankreich, England und der Schweiz den Frühsozialismus kennen und geben die Ideen auf Wanderschaft weiter. Während der Revolution 1848 entsteht die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung in Deutschland. Doch sie fällt der Gegenrevolution zum Opfer.
Der Schneidergeselle Wilhelm Weitling wirbt ab 1838 im geheimen Bund der Gerechten für ein christlich-sozialistisches Gesellschaftsideal.
1848 erfasst die Revolution ganz Europa. Liberale und Demokraten fordern die Abschaffung der Ständegesellschaft, den Verfassungsstaat und die selbstbestimmte Nation. Die Revolution wird zum Dreh- und Angelpunkt der frühen Arbeiterbewegung in Deutschland.
Der Buchdrucker Stephan Born gründet 1848 die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung, um den Arbeitern eine Stimme zu verleihen. Es ist die erste legale Organisation der deutschen Arbeiterbewegung. Der Dachverband mit 170 Ortsvereinen und 15.000 Mitgliedern fordert allgemeine Wahlen, Tarifverträge und Krankenkassen.
1848 veröffentlichen Karl Marx und Friedrich Engels das Kommunistische Manifest, das sie im Auftrag des Bundes der Kommunisten geschrieben haben. Es ist das erste Zeugnis einer historischen Klassenanalyse. Das Meisterwerk der politischen Literatur wirkt, weil es erstmals die universelle Menschheitsbefreiung beschreibt. Deshalb ist es heute UNESCO-Weltkulturerbe.
Frauen dürfen sich im 19. Jahrhundert politisch nicht betätigen. Louise Otto (verh. Peters) und andere tun es trotzdem und beanspruchen gleiche soziale und politische Rechte und Pflichten. Peters gründet 1849 die „Frauen-Zeitung“ mit dem Motto: „Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen“. Die Zeitung wird 1850 verboten.
II. Leipzig – Eisenach – Gotha (1863 bis 1875)
In den 1860er Jahren überschlagen sich die Ereignisse: Zunächst gründen liberale Bürger neue Arbeiterbildungsvereine. Sie verzichten auf politische Programme und setzen auf Bildung als Hilfe zur Selbsthilfe. Um gleiche politische, soziale und wirtschaftliche Teilhabe geht es nicht. Daher fordern immer mehr Arbeiter und Handwerker eine eigenständige Arbeiterpartei, um Staat und Gesellschaft zu demokratisieren. Die Vorläufer der heutigen SPD entstehen: 1863 gründet Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in Leipzig. 1869 rufen in Eisenach August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ins Leben. 1875 vereinigen sich in Gotha beide Parteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei.
Am 23. Mai 1863 gründet Ferdinand Lassalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig. Der ADAV ist die erste sozialdemokratische Partei. Er setzt auf Reformen im staatlichen Rahmen. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht für Männer ist die wichtigste Forderung. Staatlich geförderte Genossenschaften sollen das Hineinwachsen in den Sozialismus ermöglichen. Vom ADAV geht eine beflügelnde Wirkung auf die Arbeiterschaft aus – trotz geringer Mitgliederzahlen. Um Lassalle, der 1864 nach einem Duell stirbt, entsteht ein regelrechter Kult.
Als Reaktion auf den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) schließen sich 1863 die bürgerlichen Arbeitervereine im Vereinstag deutscher Arbeitervereine (VDAV) zusammen. August Bebel gehört bald zum Führungskreis. Doch die Zweifel an der Zusammenarbeit mit dem Bürgertum wachsen. Die Wege trennen sich, als es dem VDAV-Vorsitzenden Bebel 1868 gelingt, den Vereinstag an die internationale Arbeiterbewegung zu binden. Nun wirbt Bebel auf Vortragsreisen für die Gründung einer zweiten Arbeiterpartei. Ursprünglich ist geplant, die neue Partei im Goldenen Löwen in Eisenach zu gründen. Doch nach Handgreiflichkeiten zwischen Lassalle- und Bebel-Anhängern gründen Bebel und Wilhelm Liebknecht im Eisenacher Hotel Zum Mohren die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Da das Hotel Zum Mohren abgerissen ist, ist heute im Gebäude des Goldenen Löwen eine Dauerausstellung zur Geschichte der Sozialdemokratie in Deutschland zu sehen.
Liebknecht (1826-1900) beteiligt sich aktiv an der Revolution 1848/49. Er flüchtet 1850 nach London. Im direkten Austausch mit Marx und Engels nähert er sich marxistischen Ideen an. 1862 kehrt Liebknecht nach Deutschland zurück und trifft Bebel, dessen politischer Mentor und Freund er wird. Beide werden Reichstagsabgeordnete. Als Organisator, Redakteur und Agitator wirbt Liebknecht für den Marxismus und kritisiert die Kriegs- und Kolonialpolitik. Liebknecht stirbt 1900. Sein Sohn Karl tritt das politische Erbe an.
Nach Drechslerlehre und Wanderschaft zieht Bebel nach Leipzig. Dort tritt er 1861 in den Gewerblichen Bildungsverein ein. 1865 lernt er Wilhelm Liebknecht kennen, der Bebels Hinwendung zu Marx unterstützt. 1866 gründen sie die Sächsische Volkspartei aus Protest gegen die preußische Kriegspolitik. Bebel übernimmt die Führung weiterer Vorläuferorganisationen und schließlich 1892 der SPD. Weder Haft noch Exil bringen Bebel vom Weg ab: Er macht die Sozialdemokratie stark. Seine Anhänger lieben den „Arbeiterkaiser“ – seine Gegner fürchten ihn.
Rufe wie „Liebknecht ist da!“ locken die Menschen in die Gaststätten, um die Agitatoren zu sehen und zu hören.
Bis 1908 dürfen Frauen keiner Partei beitreten. So ist die frühe Sozialdemokratie eine Männerbewegung. Trotzdem bauen viele Frauen aktiv an der jungen Bewegung mit. Bebel erkennt schon früh die Bedeutung von Frauen als politische Mitstreiterinnen auf dem Weg in eine sozialistische Gesellschaft. 1875 scheitert sein Vorstoß, die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht für Frauen in das Parteiprogramm aufzunehmen.
Mit der Reichsgründung von oben entfällt ein zentraler Konfliktpunkt zwischen dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP). Gleichzeitig nimmt der Druck auf die Sozialdemokraten beider Lager zu. Um die Kräfte der Arbeiterbewegung im Kampf gegen den wilhelminischen Obrigkeitsstaat zu sammeln, fordern immer mehr den Zusammenschluss. 1875 vereinigen sich der ADAV und die SDAP in Gotha zur Sozialistischen Arbeiterpartei. 1890 nennt sich die Partei in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) um.
Nach dem Gothaer Vereinigungsparteitag soll die Sozialdemokratie nur noch eine Stimme haben: Der „Vorwärts“ ersetzt ab 1876 die konkurrierenden Blätter „Der Volksstaat“ und „Neuer Social-Demokrat“. Eine Doppelspitze bildet die redaktionelle Leitung: der Marxist Wilhelm Liebknecht und der Lassalleaner Wilhelm Hasenclever.
III. Der Aufstieg der
Sozialdemokratie (1875 bis 1914)
Die Freude über die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien zu einer Partei währt nur kurz: 1878 verabschiedet der Reichstag das „Sozialistengesetz“. Bis 1890 bleiben sozialdemokratische und gewerkschaftliche Organisationen, Versammlungen, Zeitungen und Zeitschriften verboten. Für ihre politischen Ideale gehen viele Sozialdemokraten ins Gefängnis oder ins Exil. Doch der Reichskanzler Otto von Bismarck verfehlt sein Ziel: Der Aufstieg der Sozialdemokratie ist nicht zu stoppen. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes nennt sich die Partei in SPD um. Unter August Bebel entwickelt sie sich zwischen 1890 und 1914 zu einer Massenorganisation und zum Vorbild für sozialdemokratische Parteien weltweit. Es sind wichtige Lehrjahre mit Erfolgen und Richtungskämpfen. 1912 gewinnt die SPD die Reichstagswahlen. Es ist der Höhepunkt ihrer bisherigen Geschichte.
1878 verabschieden die konservativen und die meisten nationalliberalen Reichstagsabgeordneten das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Es verbietet Partei, Gewerkschaften, sozialdemokratische Presseerzeugnisse und Versammlungen. Der Reichstag verlängert es bis 1890 mehrfach. Zur Unterstützung der verfolgten Weggefährten bauen die Sozialdemokraten ein Netzwerk im In- und Ausland auf.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfen Sozialdemokraten während des „Sozialistengesetzes“ an Landtags- und Reichstagswahlen teilnehmen. Trotz der staatlichen Verfolgung wählen immer mehr Arbeiter die Sozialdemokratie.
Die zwölf Jahre der staatlichen Verfolgung verstärken das Misstrauen der Sozialdemokraten gegenüber dem Kaiserreich. Das begünstigt die Hinwendung zum Marxismus. Verfemt, verfolgt, verachtet zu werden, stärkt die Solidarität. Es pflanzt das Bewusstsein eines gesellschaftlichen Außenseiters ein, aber auch eines Helden.
Das Erfurter Programm (1891) von Eduard Bernstein und Karl Kautsky steht am Anfang des Aufstiegs zur Massenorganisation. Der Text verbindet marxistische Grundannahmen mit konkreten sozialpolitischen Forderungen. Es legt den Grundstein für so manchen Streit zwischen Revolutionären und Reformern.
Der „Stammbaum“ zeigt, wie sich die Sozialdemokratie um 1900 selbst verortete. Es ist ein historisches Gegenbild zu den herrschenden bürgerlichen Werten und Vorstellungen.
Um 1900 kritisiert Eduard Bernstein den Kern des SPD-Weltbilds: Der Kapitalismus sei anpassungsfähig, sein Zusammenbruch nicht zwangsläufig. Es sei daher besser, sich in das System zu integrieren und die Gesellschaft von innen zu reformieren. Die Partei lehnt Bernsteins Thesen ab. Heute gilt Bernstein als Vater der sozialen Demokratie.
Nach 1900 verständigt sich die SPD auf den Generalstreik als politisches Kampfmittel. Demgegenüber setzen die Gewerkschaften auf soziale Verbesserungen durch Reformen. 1906 einigen sich SPD und Gewerkschaften im Mannheimer Abkommen: Wichtige politische Entscheidungen werden gemeinsam getroffen – wie die über einen politischen Streik.
1879 beflügelt Bebels Buch „Die Frau und der Sozialismus“ die sozialdemokratische Frauenbewegung. 1891 ist die SPD die erste Partei, die in ihrem Programm das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht für beide Geschlechter fordert. Erst 1908 erlaubt das Reichsvereinsgesetz Frauen, in Parteien einzutreten. Doch schon vorher beteiligen sie sich an gewerkschaftlicher und sozialdemokratischer Arbeit. Viele Parteigenossen sehen in Frauen zwar Unterstützerinnen der politischen Arbeit, weniger jedoch gleichberechtigte politische Partnerinnen.
Luise Zietz (1865-1922) ist eine populäre Agitatorin. 1911 ist sie neben Clara Zetkin die erste Frau im Parteivorstand.
Die sozialdemokratische Delegierte Clara Zetkin (1857-1933) fordert auf der zweiten Internationalen Frauenkonferenz 1910 in Kopenhagen die Einführung eines Internationalen Frauentags. 1911 findet dieser erstmals statt.
Als erste Partei nimmt die SPD 1891 die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in das Parteiprogramm auf. Nach dem Ersten Weltkrieg wird es endlich in die Verfassung aufgenommen.
Mit dem Spruch „Frei – heil. Frisch – frei. Stark – treu.“ wirbt der Arbeiter-Turn- und Sportverein (ATSB) um Mitglieder. Er zählt zu den vielen Arbeitervereinen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Umfeld von Gewerkschaften und SPD als Selbsthilfeorganisationen entstehen. Sie kämpfen gegen die wirtschaftliche Not, die politische und gesellschaftliche Benachteiligung der Arbeiterklasse. Diese Vereine werden für die Arbeiterfamilien zur Heimat. Sie stiften den Zusammenhalt des Milieus, aus dem die SPD ihre politische Kraft zieht.
Wilhelm Liebknecht hatte bereits 1872 in seinem berühmten Vortrag „Wissen ist Macht“ gefordert, die Schranken einzureißen, die der Arbeiterklasse den Zugang zu Wissen, Bildung und Kultur verwehrten.
Ab Ende der 1890er Jahre baut die SPD das Netz der lokalen Arbeitersekretariate aus. Die Berliner Parteizentrale professionalisiert die politische Arbeit 1906 durch die Gründung einer Parteischule. Eine wichtige Geldquelle ist der Vertrieb eigener Presseorgane. Die redaktionelle Arbeit ist zudem das Sprungbrett für die politische Karriere.
Jean Jaurés (1859-1914) ist der bekannteste französische Sozialist des frühen 20. Jahrhunderts. In der Zweiten Sozialistischen Internationalen (SI) setzt er sich für den Kampf gegen Militarismus und Krieg ein. 1907 nimmt Jaurés an dem SI-Kongress in Stuttgart teil. Am 31. Juli 1914 wird Jaurés von französischen Nationalisten ermordet.
Im Wahlkampf zur Reichstagswahl 1912 warnt die SPD vor geplanten Steuern und Zöllen, die vor allem die Arbeiter_innen und Angestellten belasten.
Die Reichstagswahl 1912 ist die letzte Wahl vor dem Ersten Weltkrieg. Im Wahlkampf warnt die SPD vor Militarismus und einer kriegstreiberischen Politik.
1912 zahlt sich die harte Partei- und Organisationsarbeit aus. Die SPD fährt den größten Wahlerfolg ihrer bisherigen Geschichte ein. Sie wird die stärkste Fraktion im Reichstag. Der Wahlsieg scheint diejenigen zu bestätigen, die nicht durch Revolution, sondern durch den Stimmzettel die Macht erobern und das System aus den Angeln heben möchten. Doch der SPD fehlen die politischen Partner, um ihre parlamentarische Stärke in politischen Einfluss umzumünzen.
1913 stirbt August Bebel, der die frühe Sozialdemokratie in Deutschland geprägt hat wie kein Anderer. Mit seinem Tod enden die Lehr- und Wanderjahre der SPD. Die einige und starke Partei Bebels bleibt noch lange das Ideal für viele Genoss_innen.
IV. Erster Weltkrieg und
Revolution
Für die frühe Sozialdemokratie sind Militarismus und Imperialismus die Übel des Kapitalismus. August Bebel und Wilhelm Liebknecht landen für ihre Kritik am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 wegen Hochverrats im Gefängnis. Obwohl sich die SPD und die Zweite Sozialistische Internationale gegen den Krieg aussprechen, können deutsche und europäische Sozialdemokrat_innen den Ersten Weltkrieg nicht verhindern. Im Gegenteil: Sie unterwerfen sich der Kriegspolitik ihrer Nationen. Im August 1914 stimmt die SPD-Reichstagsfraktion der Bewilligung der Kriegskredite zu. Es ist ein folgenschwerer Entschluss, den die SPD 1917 mit der Spaltung der Arbeiterbewegung bezahlt. Bei Kriegsende 1918 nutzen die Sozialdemokrat_innen die Chance, auf die sie gewartet haben: Sie dürfen die demokratische Zukunft gestalten.
Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs versucht die SPD, ihre Anhänger gegen den drohenden Krieg zu mobilisieren.
Anfang August 1914 lenkt die SPD-Führung ein: Die SPD-Reichstagsfraktion stimmt der Bewilligung der Kriegskredite zu. Die Partei legt den Krieg als Selbstverteidigung gegen das russische Zarenreich aus und reiht sich in den „Burgfrieden“ ein. Es ist – für die Dauer des Kriegs – der Verzicht auf Streiks und innenpolitische Konflikte mit dem politischen Gegner.
Der Sozialdemokrat Ludwig Frank (1874-1914) tritt für die Burgfriedenspolitik ein. Im August 1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst, nur wenige Wochen später fällt er.
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verstummt zunächst der Protest. Doch die Kriegsgegner formieren sich innerhalb und außerhalb der SPD neu. Karl Liebknecht stimmt im Dezember 1914 erstmals im Reichstag gegen die Kriegskredite – bald folgen immer mehr seinem Beispiel. Die Parteiführung geht entschieden gegen die innerparteiliche Opposition vor, die ihrerseits die Politik der SPD-Führung kritisiert. Bald ist die Spaltung der Partei nicht mehr aufzuhalten: Im April 1917 gründen die Kriegsgegner die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD).
Nach der Februarrevolution 1917 in Russland bringen die neu gegründete USPD und die Streiks in den Arbeiterhochburgen die Mehrheitssozialdemokratie dazu, sich für ein Kriegsende einzusetzen. Im Oktober 1918 übernehmen reichsweit Soldaten und Arbeiterräte die Macht. Anfang November 1918 ernennt Prinz Max von Baden den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum Reichskanzler.
Im „Rat der Volksbeauftragten“ gestalten beide sozialdemokratischen Parteien den Umbruch. Doch die Konflikte sind vorprogrammiert: Die SPD um Friedrich Ebert möchte eine parlamentarische Demokratie und baldige Wahlen, die USPD bevorzugt eine Räterepublik.
Ende 1918 ziehen sich die USPD-Mitglieder aus dem „Rat der Volksbeauftragten“ zurück. Radikalisierte USPD-Mitglieder um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gründen umgehend die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Sie möchten die Revolution weiter vorantreiben und aus Deutschland eine Räterepublik machen.
Seit den ersten Revolutionstagen fordert Friedrich Ebert Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung. An dieser Forderung hält er trotz der widrigen Umstände fest. Es geht ihm und der SPD um die Zustimmung der Wähler_innen zu den ersten politischen Reformen und die Bildung einer demokratisch legitimierten Regierung. Die Wahl am 19. Januar 1919 gewinnen die Mehrheitssozialdemokraten. Mit der Deutschen Demokratischen Partei und dem katholischen Zentrum bilden sie die erste Regierung der Weimarer Republik.
In den Revolutionstagen 1918 führt die SPD das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ein. Bei der Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 dürfen Frauen erstmals wählen und gewählt werden. Frauen sind nun gleichberechtigte Mitstreiterinnen, aber auch eine neue Zielgruppe als Wählerinnen.
Zur Jahreswende 1918/19 steht Deutschland am Rande eines Bürgerkriegs. Republikfeinde, dienstentlassene Soldaten und alte Eliten organisieren sich in Freikorps. Ihr Hass auf die Revolution entlädt sich in der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts in Berlin sowie Kurt Eisners in München.
V. Die SPD in der Weimarer Republik (1919 bis 1933)
Die SPD hat maßgeblichen Anteil daran, dass Deutschland zwischen 1919 und 1933 eine demokratische Republik ist. Sie setzt auf die Festigung der parlamentarischen Demokratie und grenzt sich von den Unabhängigen Sozialdemokraten und den Kommunisten ab, die ein sozialistisches Rätesystem fordern. Trotz der Anfeindungen von links und rechts versucht die SPD, den Staat durch Reformen zu demokratisieren und durch eine kluge Sozialpolitik die Lage der Arbeiter_innen zu verbessern. Die SPD leistet Bahnbrechendes beim Auf- und Ausbau des Sozialstaats – eine der größten Errungenschaften der europäischen Moderne. Die SPD betrachtet die Weimarer Republik als ihr Kind. Am Ende muss sie sich und die Republik fast alleine gegen die Feinde der Demokratie verteidigen.
Die Sozialdemokratin Marie Juchacz (1879-1956) ist die erste Frau, die 1919 vor einem deutschen Parlament spricht. In demselben Jahr gründet sie mit der SPD-Reichstagsabgeordneten Louise Schroeder die Arbeiterwohlfahrt (AWO). Zunächst soll die Not der Kriegsgeschädigten gelindert werden, doch schon bald entwickelt sich die AWO zur Hilfsorganisation für alle benachteiligten Menschen. Sie wird zu einem wichtigen Teil des Sozialstaats.
Im Februar 1919 wählt die Nationalversammlung Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten. Philipp Scheidemann wird Reichskanzler. In Deutschland sind erstmals zwei Sozialdemokraten in den höchsten Staatsämtern.
Philipp Scheidemanns tritt im Juni 1919 aus Protest gegen den Versailler Vertrag zurück. Der Sozialdemokrat Gustav Bauer wird neuer Reichskanzler. Er tritt im März 1920 nach dem Kapp-Putsch zurück. Hermann Müller wird sein Nachfolger. Nach den vorgezogenen Reichstagswahlen im Juni 1920 geht die SPD in die Opposition.
Die letzte offizielle Aufnahme Friedrich Eberts. Nur wenige Tage später stirbt er im Alter von 54 Jahren. In den Monaten und Jahren zuvor hatte der Reichspräsident sich immer wieder gegen Verleumdungen von Republikfeinden wehren müssen. Er verschleppt Krankheitssymptome und stirbt am 28. Februar 1925 an einer Blinddarmentzündung.
Nach mehreren Jahren in der Opposition übernimmt die SPD mit Hermann Müller 1928 die Regierungsverantwortung in einer Großen Koalition. Obwohl außenpolitische Erfolge erreicht werden, bricht die Koalition 1930 auseinander: Die SPD lehnt in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit weitere Einschnitte in die Arbeitslosenversicherung ab.
In der Weimarer Republik gibt die SPD dem Sozialstaat die entscheidenden Impulse. Ein modernes Fürsorgerecht löst die Armenpflege ab. Die Absicherung von Lebensrisiken wie Krankheit und Unfall, die Altersvorsorge und ab 1927 auch die Arbeitslosenversicherung werden solidarisch organisiert. In Städten und Gemeinden entwickelt die SPD eine moderne Sozialpolitik.
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre stürzt die Weimarer Republik in eine Krise – und mit ihr die sozialen Systeme, die stark belastet sind.
Bereits im 19. Jahrhundert schaffen die Arbeiter_innen ihre eigene Kulturbewegung – von der bürgerlichen Kultur bleiben sie ausgegrenzt. Sie bauen Sportplätze und Waldheime zur Naherholung und organisieren Vorträge zu kulturellen Themen. Ob im Verein, im Theater oder im Spielmannszug – in den 1920er Jahren bietet die Arbeiterkulturbewegung ein lückenloses Netz der Freizeitgestaltung. So durchdringt die Sozialdemokratie fast alle Lebensbereiche der arbeitenden Bevölkerung.
Die Weimarer Jahre sind für die SPD turbulent: Mit der USPD und der KPD hat sie linke Konkurrenz. Die Gewerkschaften unterstützen die SPD in der politischen Auseinandersetzung. Das Görlitzer Programm ist 1921 der Versuch, sich den Mittelschichten zu öffnen. Mit dem Heidelberger Programm kehrt 1925 wieder mehr Marx ein. Gleichzeitig enthält es neue Ansätze wie die Forderung nach den Vereinigten Staaten von Europa. Zwar findet der gemäßigte USPD-Flügel zur SPD zurück. Doch 1931 spaltet sich die Partei erneut. Linkssozialisten gründen die Sozialistische Arbeiterpartei.
Levi wechselt mehrfach die Partei: Von der SPD in die USPD. 1919 zählt er zu den Mitbegründern der KPD, deren Vorsitzender er zeitweise auch ist. Schließlich kehrt er jedoch in die SPD zurück.
Die SPD muss sich und die Weimarer Republik gegen Feinde von rechts und links verteidigen. In den Anfangsjahren verschwören sich vor allem rechtsextreme Gruppen gegen die Republik. Beim Kapp-Putsch im März 1920 droht der Weimarer Republik wieder einmal der Bürgerkrieg. Die sozialdemokratische Reichsregierung flüchtet aus Berlin. Nach fünf Tagen ist der Putschversuch des Militärs niedergeschlagen – vor allem wegen des Generalstreiks, zu dem die Gewerkschaften aufrufen.
Die Sozialdemokrat_innen überlassen nicht den Nationalsozialisten die Straße. Seit 1924 gibt es das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Hauptsächlich Sozialdemokraten tragen die überparteiliche Republikschutzorganisation.
1931 gründet das Reichsbanner mit den Gewerkschaften und anderen republiktreuen Organisationen die Eiserne Front. Doch weitere Bündnispartner im Kampf gegen die Nationalsozialisten fehlen. Die Weimarer Republik scheitert – an der Demokratiefeindlichkeit der alten Eliten.
Der Sozialdemokrat Otto Braun ist von 1921 bis 1932 fast durchgehend preußischer Ministerpräsident. Durch sein entschiedenes Vorgehen gegen Republikfeinde macht er aus dem Obrigkeitsstaat Preußen ein Bollwerk der Demokratie. Erst die unrechtmäßige Entmachtung, der „Preußenschlag“ im Juli 1932, beendet dieses Projekt.
VI. Verbot, Verfolgung, Widerstand und Exil (1933 bis 1945)
Am 30. Januar 1933 ernennt Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler. Unmittelbar danach beginnt die staatliche Verfolgung derjenigen, die nicht in das nationalsozialistische Weltbild passen. Mit aller Kraft zerstört die NSDAP die Demokratie. Die Gewerkschaften werden gleich geschaltet, KPD und SPD verboten. Viele landen im Konzentrationslager, leisten Widerstand und bezahlen ihre Unbeugsamkeit mit dem Leben. Andere retten sich ins Ausland. In Prag organisieren führende Sozialdemokrate die SOPADE als sozialdemokratische Exilorganisation. Überlebende Sozialdemokrat_innen bewahren ihre Grundwerte und bereiten sich für einen demokratischen Neuanfang vor.
Die Ausschaltung von KPD und SPD ist eines der obersten Ziele der NSDAP. Als die SPD bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 – trotz massiven Terrors – 18,3% der Wählerstimmen erhält, überfallen SA und SS Gewerkschaftsgebäude und Redaktionen. Am 2. Mai folgt die Zerschlagung der Gewerkschaften, am 22. Juni das Verbot der SPD.
Im Februar 1933 verkündet der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) seine politische Neutralität und geht auf Distanz zur SPD. Doch diese Strategie der bedingten Anpassung unterschätzt den Machtwillen der Nationalsozialisten: Am 1. Mai feiern die Gewerkschaften mit den neuen Machthabern den „Tag der nationalen Arbeit“, schon am nächsten Tag werden sie von den Nationalsozialisten zerschlagen.
Viele haben vor 1933 vor dem Terror gewarnt, den die Nationalsozialisten über Deutschland bringen würden. Gleich nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler werden die dunklen Vorahnungen Wirklichkeit: Die Nationalsozialisten erniedrigen Sozialdemokraten öffentlich und schrecken nicht vor politischem Mord zurück.
Kurt Schumacher verbringt über neun Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Doch der vom Ersten Weltkrieg Gezeichnete zerbricht nicht – auch nicht als er im Lager sinnlos Steine schleppen muss. Zu einem Mithäftling im KZ Dachau sagt er: Ihr Leid würde sie „zur politischen Führung in den Jahren nach Hitler“ berechtigen.
Julius Leber, der bis 1933 SPD-Reichstagsabgeordneter ist, unterstützt die überparteiliche Gruppe, die das Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 plant. Für die Zeit nach dem Sturz ist Leber als Innenminister vorgesehen. Nachdem das Attentat scheitert, wird Leber verurteilt und am 5. Januar 1945 hingerichtet.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten entscheiden sich viele für den Rückzug ins Private. Aus der SPD-Führung flüchten einige ins Ausland und bauen dort die SOPADE auf. Das Ziel der Exil-SPD ist es, die Welt über den verbrecherischen Nationalsozialismus aufzuklären und den Widerstand in Deutschland zu unterstützen.
Ins Ausland geflüchtete Sozialdemokrat_innen helfen Verfolgten. Johanna Kirchner gehört zu denjenigen, die deutsch-jüdischen Familien bei der Flucht helfen. Kirchner überlebt jedoch nicht: 1942 liefert die Vichy-Regierung sie an das nationalsozialistische Deutschland aus. Kirchner wird 1944 hingerichtet.
Im Exil werden politische Differenzen überwunden: 1941 schließen sich SOPADE und verschiedene linkssozialistische Exilorganisationen zur „Union deutscher sozialistischer Organisationen“ in Großbritannien zusammen.
Sozialdemokratischer Widerstand geht häufig vom persönlichen Zusammenhalt im sozialdemokratischen Milieu aus: In Duisburg kauft Hermann Runge mit einem Freund eine Brotfabrik, um die Ausfahrt der Teigwaren zum Verteilen von Flugschriften zu nutzen.
VII. Die westdeutsche Sozialdemokratie (1945 bis 1990)
Am 8. Mai 1945 endet der Zweite Weltkrieg. Kurt Schumacher beginnt in Hannover, die West - SPD neu aufzubauen. Die westdeutsche Sozialdemokratie bekennt sich zur parlamentarischen Demokratie, in der sich der Sozialismus entfalten könne. Damit grenzt sie sich vom Kurs der Kommunisten und der DDR ab. In den 1950er Jahren muss die SPD schmerzliche Wahlniederlagen hinnehmen. Es folgen Erneuerungen wie das Godesberger Programm. 1969 wird Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler gewählt. Der demokratische Sozialstaat wird neu begründet. Bei der Aussöhnung mit den osteuropäischen Staaten, die unermesslich unter der nationalsozialistischen Herrschaft gelitten haben, und bei der Verständigung mit der Sowjetunion übernimmt die SPD eine Vorreiterrolle.
Kurt Schumacher ist bis zu seinem Tod 1952 die unumstrittene Führungsfigur der SPD im Westen. Sozialdemokrat_innen, die im In- oder Ausland den NS-Terror überlebt haben, bilden das „Büro Schumacher“. Es ist der organisatorische Kern der Nachkriegs-SPD. Westdeutsche Sozialdemokrat_innen fordern radikal den demokratischen Neuanfang in Staat und Gesellschaft. Die SPD möchte keine „Klassenpartei“ mehr sein, sondern in der Mitte der Gesellschaft Politik gestalten.
Auch im Westen gibt es Sehnsüchte nach der Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung. Doch Kurt Schumacher lehnt den Zusammenschluss von SPD und KPD ab. Erfolgreich setzt er eine kompromisslose Linie durch. Die Urabstimmung in West-Berlin zeigt im Frühjahr 1946: Die Befürworter einer Einheitspartei sind in der Minderheit. Ernst Reuter macht West-Berlin zum Symbol des antikommunistischen Widerstands.
In Kommunen und Ländern übernehmen Sozialdemokrat_innen als Bürgermeister oder Ministerpräsidenten politische Verantwortung. Als die Westalliierten auf die Gründung eines westdeutschen Teilstaats drängen, arbeiten Sozialdemokrat_innen im Parlamentarischen Rat am Grundgesetz mit.
Nach 1945 gründen sich die Gewerkschaften neu. Die Industriegewerkschaften ersetzen die parteigebundenen Gewerkschaften. 1949 entsteht der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als Dachorganisation. Gewerkschaften und SPD kämpfen gemeinsam für die betriebliche Mitbestimmung. Den 1. Mai erobern sie sich als Aktionstag zurück.
Nach dem Krieg sehen westdeutsche Sozialdemokraten, wie die SED ostdeutsche Sozialdemokraten ausschaltet. Die SPD unterstützt Weggefährten, die aus der DDR in die Bundesrepublik fliehen. Als aus dem Streik Berliner Bauarbeiter am 17. Juni 1953 ein Aufstand in ganz Ostdeutschland wird, ist für die SPD klar: Es ist ein sozialdemokratischer Aufstand für Freiheit und Einheit. Er richtet sich gegen das SED-Regime, aber auch gegen die bundesrepublikanische Westintegrationspolitik.
Die westdeutsche SPD stellt bis in die 1950er Jahre die Wiedervereinigung in den Mittelpunkt der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik. Entschieden spricht sich die SPD gegen die Westintegration und die Wiederbewaffnung aus, da sie die deutsche Spaltung vertiefe. Im Ost-West-Konflikt gerät die SPD damit ins Abseits.
1958 organisieren SPD, DGB und kirchliche Kreise die Kampagne „Kampf dem Atomtod“. Mit Demonstrationen, Plakat- und Flugblattaktionen protestieren sie gegen Pläne der Bundesregierung, die Bundeswehr mit Atomwaffen aufzurüsten. Es entsteht das Bewusstsein für die Gefahren eines Nuklearkriegs.
Die dramatischen Wahlverluste der SPD 1953 und 1957 sorgen für ein Umdenken. Sozialdemokrat_innen mit linkssozialistischer Vergangenheit wie Fritz Erler, ethische Sozialisten wie Willi Eichler und politische Quereinsteiger wie Carlo Schmid organisieren gemeinsam die Reform. 1959 verabschiedet die SPD in Bad Godesberg ein neues Grundsatzprogramm. Es formuliert schlüssig die Grundwerte der Sozialen Demokratie – Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – und markiert die Öffnung der Sozialdemokratie zur Volkspartei.
Herbert Wehners Bundestagsrede vom 30. Juni 1960 symbolisiert den politischen Kurswechsel der SPD. Nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander sollen alle Demokraten gegen Diktaturen und für die westliche Gemeinschaft eintreten. Ab 1961 steht Willy Brandt als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender für diese Politik. Brandts Stab probt in der geteilten Stadt erfolgreich die spätere Entspannungspolitik: Die Passierscheinabkommen ab 1963 machen die Mauer durchlässiger, die die DDR in Berlin und an der Westgrenze 1961 errichtet hat.
Im Wahlkampf 1969 präsentiert sich die SPD als moderne Reformpartei. Bereits in der Wahlnacht stellt Willy Brandt die Weichen für die sozial-liberale Koalition – und damit für die Umgründung der Bundesrepublik. In der ersten Regierungserklärung prägt Brandt das Wort „Mehr Demokratie wagen“: Reformen sollen die Menschen näher an die Politik bringen. Er kündigt zudem eine neue Deutschland- und Ostpolitik an.
Mit der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsident beginnt 1969 der sozialdemokratische Aufbruch.
Die Neue Ostpolitik Willy Brandts steht für die schrittweise Verständigung mit den osteuropäischen Nachbarn. Die Ostverträge sollen trotz Ereignissen wie dem Ende des Prager Frühlings den „Wandel durch Annäherung“ herbeiführen. Mit dem Erfurter Gipfeltreffen 1970 beginnt die deutsch-deutsche Annäherung auf höchster politischer Ebene.
1971 erhält Willy Brandt den Friedensnobelpreis für seine gesamteuropäische Politik. In Westdeutschland ist die Ostpolitik umstritten. 1972 muss sich Brandt deswegen einem Misstrauensvotum stellen. Es scheitert und die Neuwahlen werden zu einer Abstimmung über die Ostpolitik und Brandt. Die Bundestagswahl ist ein Triumph: Die SPD wird stärkste Kraft im Bundestag.
In den 1970er Jahren hat die SPD viel Zulauf: 1976 zählt sie wieder eine Million Mitglieder. Der Erfolg hat Folgen, die Partei verändert sich – durch die vielen jungen Mitglieder und auch durch die Gründung von Arbeitsgemeinschaften. Bald muss sich die SPD neuer Konkurrenz stellen: den Umwelt- und Friedensbewegungen. Während Brandt eine Öffnung gegenüber den Neuen Sozialen Bewegungen fordert, möchten andere die Interessen der traditionellen SPD-Wähler_innen stärken.
In den 1970er wächst bei den Jungsozialist_innen die nächste Generation der Sozialdemokratie heran.
Seit den frühen 1970er Jahren organisieren sich die Sozialdemokratinnen in der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF). Sie kritisieren den NATO-Doppelbeschluss und streiten für die „Quote“, die die SPD 1988 einführt.
Nach dem Rücktritt Willy Brandts 1974 wird Helmut Schmidt Bundeskanzler. In Zeiten der wirtschaftlichen Rezession und des wachsenden Krisenbewusstseins hält er den Kurs. Im „Deutschen Herbst“ steht Schmidt für die unbeugsame Härte des Rechtsstaats gegenüber dem Terrorismus. Er setzt die Deutschland- und Außenpolitik Brandts fort, stößt aber mit dem NATO-Doppelbeschluss innerhalb und außerhalb seiner Partei an Grenzen. 1982 beendet ein konstruktives Misstrauensvotum seine Amtszeit.
Nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler gestaltet Willy Brandt als SI-Präsident und -Vorsitzender die internationale Weltpolitik mit.
Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau gestalten in den 1980er Jahren den personellen, strategischen und politischen Wandel der SPD mit. Hans-Jochen Vogel wird 1987 der Nachfolger Willy Brandts als Parteivorsitzender.
Mitten in der Friedlichen Revolution 1989/90 verabschiedet die SPD ein neues Grundsatzprogramm. Es gibt sozialdemokratische Antworten auf aktuelle Themen und ökologische Fragen. Emotionaler Höhepunkt des Berliner Parteitags ist der Auftritt von Mitgliedern der jungen ostdeutschen Sozialdemokratie.
VIII. Die ostdeutsche Sozialdemokratie
Nicht nur im Westen, auch im Osten wagt die SPD einen Neuanfang: Im Juni 1945 bildet der Kreis um Otto Grotewohl den Zentralausschuss der SPD, der den Aufbau der Partei in der Sowjetischen Besatzungszone leiten soll. Als die ostdeutsche SPD erstarkt, besiegeln die sowjetischen Besatzer und die ostdeutschen Kommunisten das Schicksal der SPD: Im April 1946 entsteht die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Es folgt die „Ausschaltung“ der Sozialdemokrat_innen durch Verleumdung, Verfolgung und Haft. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 reißen die Traditionslinien endgültig ab – bis 1989 Frauen und Männer in Schwante die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) gründen.
Im Juni 1945 lassen die sowjetischen Besatzer politische Parteien wieder zu. Der Zentralausschuss um Otto Grotewohl und Max Fechner ruft umgehend zur Gründung der SPD auf. Obwohl die sowjetischen Besatzer die KPD unterstützen, wächst die SPD schneller. Im Dezember 1945 beugt sich der Zentralausschuss der SPD dem Druck. Auf einer Konferenz beschließen die Delegierten den Zusammenschluss ihrer Partei mit der KPD. Lediglich in Ost-Berlin gibt es bis 1961 noch SPD-Kreisverbände.
Nach der Zwangsvereinigung 1946 gründet die West-SPD das Ostbüro als Anlaufstelle für ostdeutsche Sozialdemokrat_innen. Das Ostbüro beobachtet die Vorgänge in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR genau und wird ebenso genau beobachtet: Unzählige Zeitungsartikel berichten über die „Untaten“ des jeweils anderen. Das SED-Regime setzt die Arbeit des Ostbüros mit Spionage gleich. Daher verbietet das DDR-Regime den Kontakt mit dem Ostbüro und verfolgt diejenigen, die sich über das Verbot hinwegsetzen.
Der Aufstand am 17. Juni 1953 ist die erste Massenerhebung im sowjetischen Machtbereich und ein Aufbäumen der sozialdemokratischen Opposition in der DDR. Aus dem Protest gegen Normerhöhungen wird schnell ein politischer Aufstand. Landesweit demonstrieren Menschen. Doch sowjetische Panzer zerstören die Hoffnung auf Reformen. Die Staatsmacht reagiert hart: Tausende Demonstranten verschwinden in Gefängnissen. Sozialdemokratische Traditionen sind ausgelöscht.
Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD folgt der Umbau der SED zur stalinistischen „Partei neuen Typs“, der für viele Sozialdemokrat_innen den Parteiausschluss bedeutet. Nach der Verfolgung durch die Nationalsozialisten werden Sozialdemokrat_innen wieder wegen ihrer politischen Überzeugungen verhaftet, verurteilt und inhaftiert. Viele sehen nur einen Ausweg: die Flucht in den Westen. Andere reagieren mit Rückzug ins Private, aber auch mit Anpassung und überzeugter Mitgestaltung in der DDR.
Flüchtlingswellen und Bürgerrechtsinitiativen wie das Neue Forum zeigen, wie ausgehöhlt die DDR am Ende ist. Die Gründung der SDP am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR-Gründung, ist eine politische Kampfansage. Die SDP ordnet sich in die Tradition des demokratischen Sozialismus ein, die sie nicht der SED überlassen möchte. Ostdeutsche Sozialdemokrat_innen möchten den Staat und die Gesellschaft reformieren. Sie demonstrieren gegen das SED-Regime, beteiligen sich an „Runden Tischen“ und an der letzten Regierung der DDR. Im Januar 1990 nennt sich die SDP in SPD um.
Im Juni 1990 wählen die ostdeutschen Sozialdemokrat_innen Wolfgang Thierse zum neuen Parteivorsitzenden.
IX. Die SPD nach 1990
Seit Ende September 1990 gibt es wieder eine Sozialdemokratische Partei für ganz Deutschland. Bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990 und 1994 kommt die SPD nicht an der CDU vorbei. Erst bei der Bundestagswahl 1998 stimmen die Wähler_innen für eine rot-grüne Mehrheit. Elf Jahre regiert die SPD – erst mit Gerhard Schröder als Bundeskanzler, dann in der Großen Koalition. Die SPD trifft schwierige Entscheidungen und leistet gute Arbeit. Dennoch schicken die Wähler_innen die SPD 2009 für vier Jahre in die Opposition – bis 2013 SPD und CDU/CSU die dritte Große Koalition bilden. Wieder sind die Aufgaben groß: Wirtschaft und Sozialstaat, Chancengleichheit und Zuwanderung sind internationale Fragen, die es auf der Basis der Grundwerte der Sozialen Demokratie zu beantworten gilt.
Globalisierung und Neoliberalismus verändern die Bundesrepublik in den 1990er Jahren. Auf die Herausforderungen antwortet Rot-Grün 1998 mit einem modernen Reformprogramm. Die Koalition leistet gute Arbeit und trifft schwierige Entscheidungen. Insbesondere die Agenda 2010 ist umstritten: Viele sehen die harten Einschnitte in den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme als Abkehr von sozialstaatlichen Traditionen der SPD.
Neben der Reform des Sozialstaats und dem Beschluss des Atomausstiegs trifft Rot-Grün außenpolitisch historische Entscheidungen: 1999 beteiligt sich die Bundeswehr militärisch am völkerrechtlich umstrittenen Kosovo-Krieg, nach dem 11. September 2001 am Afghanistan-Krieg. Doch die „Bündnistreue“ zu NATO-Partnern ist kein Automatismus: 2002 unterstützt die Koalition den Irak-Krieg der USA nicht. Obwohl Gerhard Schröder und Franz Müntefering im Wahlkampf 2005 für das Reformprogramm werben, wird die SPD – wenn auch knapp – bei der Bundestagswahl nur zweitstärkste Kraft. Die SPD wird Juniorpartnerin der zweiten Großen Koalition nach 1966.
Mit dem Hamburger Grundsatzprogramm von 2007 greift die SPD globale Fragen auf. Der Wechsel in der Parteispitze ermöglicht 2009 Kurskorrekturen. Die SPD sucht den bürgernahen Austausch – ob in den Zukunftswerkstätten oder durch die Präsenz in den digitalen „social communities“.
Die Niederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 ist dramatisch. Wie am Ende der sozial-liberalen Koalition 1982 scheint die Sozialdemokratie nach elf Jahren Rot-Grün, Großer Koalition und der Agenda 2010 erschöpft. Die Rückkehr auf die harten Bänke der Opposition ist unvermeidbar.
Nach der Bundestagswahl 2013 stimmen die SPD-Mitglieder einer dritten Große Koalition zu. Die neue Regierung führt den Mindestlohn ein und setzt im Ukraine-Konflikt auf politische Lösungen. 2015 bewegen „Griechenland-Krise“ und die Flüchtlinge aus den verschiedenen Krisengebieten der Welt Politik und Gesellschaft. Die Sozialdemokratie ist weltweit gefragt: Wie kann die Gesellschaft in Zukunft sozial und politisch gerechter werden?
Anfang des 20. Jahrhunderts beziehen sich Reformer wie Eduard Bernstein und Revolutionäre wie Rosa Luxemburg auf Karl Marx. Im 21. Jahrhundert wird Marx seit der Finanzkrise wieder neu entdeckt: Seine Idee der globalen Befreiung der Menschheit aus sozialer, politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung bleibt aktuell.
Dr. Anja Kruke, Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung; Dr. Ann-Katrin Thomm